Wer ist Rahel Sanzara, werden Sie fragen. Nun, ich habe sie auch nicht gekannt, bis mich der Artikel „Das ungelüftete Inkognito“ in Werner Morlangs Buch SO SCHÖN BEISEIT neugierig machte. Rahel Sanzara wird 1894 in Jena unter dem Namen Johanna Bleschke geboren. 1912 zieht sie nach Berlin und nimmt dort eine Tätigkeit als Verlagsangestellte an. In Berlin lernt sie den 12 Jahre älteren Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß kennen. Sie wird seine beste und lebenslange Freundin, er ihr Förderer. Im Ersten Weltkrieg wird Ernst Weiß als Sanitätsarzt eingezogen. Johanna Bleschke lässt sich unterdessen als Tänzerin ausbilden und feiert in den darauf folgenden Jahren Erfolge im Ausdruckstanz. Seit dieser Zeit trägt sie das Pseudonym ‚Rahel Sanzara’, nach dem Sanskritwort ‚Samsara’, womit der endlose Kreislauf von Tod und Wiedergeburt bezeichnet wird. Nach 1918 eröffnet sich der Künstlerin eine Laufbahn als Bühnenschauspielerin. Rahel Sanzara kann sich nach anfänglichen Erfolgen aber nicht etablieren. Daraufhin wird es still um sie. Im Frühjahr 1926 dann der Paukenschlag. Zunächst als Vorabdruck in der Vossischen Zeitung, dann in Buchform im Ullstein Verlag erscheint DAS VERLORENE KIND und erregt sofort beträchtliches Aufsehen. Wie war es zu dieser überraschenden schriftstellerischen Produktivität gekommen? Ernst Weiß beteuert, seine Freundin lediglich bestärkt und unterstützt zu haben: „Das Manuskript habe ich erst kennen gelernt, als es abgeschrieben vor mir lag.“ Auch Peter Engel im Nachwort zur Suhrkamp-Ausgabe hat seine Zweifel: „Eine auf expressionistische ‚Steilung’ gedrillte Schauspielerin schreibt einen Roman mit ausgesprochen epischem Atem, ein fast zerbrechlich wirkendes Persönchen erschreckt mit einem Werk, das mit ‚Männerkraft’ verfaßt zu sein scheint, und ein Realismus von schauriger Detailgenauigkeit geht in dem Buch einher mit sentimentalisch-pathetischer Landschafts- und Stimmungsmalerei.“ Fest steht, dass der Roman hohe Auflagen erzielte und ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische und Dänische übersetzt wurde. Während der Naziherrschaft kam das Buch auf den Index, wohl eher wegen des jüdischklingenden Namens seiner Verfasserin. Seitdem geriet der Roman in Vergessenheit. Rahel Sanzara schrieb noch zwei weitere Romane, die aber von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. Sie starb 1936, erst 42-jährig, an Krebs. Doch nun zum Inhalt des Romans: Erzählt wird ein Kriminalfall aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Schauplatz ist ein Gutshof irgendwo in der Norddeutschen Tiefebene. Für sein täglich Brot muss der wortkarge Einzelgänger Christian B. hart arbeiten. Doch das Glück steht dem Tüchtigen zur Seite. Die Ernten sind gut. Vieh wird angeschafft, Ställe werden gebaut, Gesinde eingestellt. Christian heiratet, ein Kind kommt auf die Welt: die kleine Anna, jedermanns Sonnenschein. Doch dann nimmt die romantische Entwicklungsgeschichte eine dramatische Kehrtwende: Anna verschwindet spurlos. Es beginnt eine lange, ergebnislose Suche nach dem vermeintlich entführten Kind, während der Leser längst weiß, was wirklich geschah: Anna wurde ermordet und im Boden der großen Scheune des Gutshofes vergraben. Der Mörder ist Felix, der pubertierende Sohn einer Magd, und doch ist er, selbst unerwünschter Spross einer Vergewaltigung, nicht nur Täter, sondern auch zugleich Opfer seiner eigenen ungestüm aufkeimenden Sexualität. Irgendwann wird die Leiche gefunden und Felix kommt für fünfzehn Jahre hinter Gitter. Auf dem Hof breitet sich unterdessen Lethargie aus. Das einst so blühende Gehöft verödet, die Gemeinschaft zerfällt. Auch Annas Mutter zerbricht an ihrem Schicksal. Schließlich verläßt Christian Haus und Hof, um in einer nahe gelegenen Stadt ein neues, zurückgezogenes Leben zu beginnen. Als am Ende Felix aus dem Gefängnis entlassen wird, fügt sich Christian in sein Schicksal. Die Glut seiner Rache ist erkaltet. Er nimmt den Mörder seiner Tochter wieder bei sich auf und sorgt für ihn bis an sein Lebensende. Im Klappentext wird der Roman mit Hamsun und Stifter verglichen. Genau das stimmt. Mit Hamsuns SEGEN DER ERDE hat er nicht nur den Schauplatz der ländlichen Abgeschiedenheit gemein, sondern auch die realistische Detailtreue in der Beschreibung des Landlebens und der Arbeitsabläufe auf dem Hof. Mit Stifters NACHSOMMER verbindet ihn die idealisierende Darstellung der Menschen und deren Charaktere. Zweifellos war es das Bestreben der Autorin dem Bösen ein gleiches Maß an Gutem gegenüber zu stellen. In dieser Ausgewogenheit liegt denn auch der eigentümliche Zauber des Romans. Erzählt ist er in einer klaren, einfachen jedoch eindringlichen und zugleich melancholischen Sprache. Seine stärksten Passagen hat der Roman in der einfühlsamen Beschreibung der verzweifelten Familie und deren Suche nach der vermissten Tochter, während der Leser längst um deren Tod weiß, sowie, gegen Ende der Geschichte, als der vereinsamte Christian den Mörder seiner Tochter wieder in seine Familie aufnimmt. Gottfried Benn sah in dem Roman eine unvergleichliche „Berückungsmacht“ angesichts seiner „Einheitlichkeit von Sprache und Gefühl.“ Und Carl Zuckmayer schrieb damals über DAS VERLORENE KIND: „Das ist ein Buch von der Art, dass man vergisst, es gelesen zu haben, dass man glauben muss, man habe es geträumt oder wachend erlebt. Man schmeckt seine Luft ganz und gar, man hat sie geatmet in dieser Landschaft und mit diesen Menschen.“ DAS VERLORENE KIND ist zuletzt 1997 als Taschenbuch im Suhrkamp Verlag erschienen. In Antiquariaten findet man gelegentlich noch die gebundene Ausgabe im ‘Weißen Programm: Im Jahrhundert der Frau’, ebenfalls Suhrkamp Verlag.
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